Krebs und sexuelle Gesundheit – ein erfülltes sexuelles Leben nach einer Krebserkrankung

Nicht nur Krebserkrankungen der Geschlechtsorgane können Auswirkungen auf die Sexualfunktionen haben; jeder Krebs und jede Behandlung können das Intimleben und sexuelle Erleben beeinträchtigen und damit die Paarbeziehung, die während der Behandlung eine der zentralen emotionalen Stützen ist, auf eine harte Probe stellen. Wenn das Alltags- und Intimleben aufgrund des Schocks durch die Diagnose, einer schweren Behandlung, einer invasiven Operation oder einer ermüdenden Strahlentherapie auf Eis liegen, ist es normal, wenn sich bei den Betroffenen angesichts dieser Belastungen Zweifel hinsichtlich ihres Selbstwertgefühls, ihrer Attraktivität und ihrer sexuellen Anziehungskraft einstellen.

12 Juni 2023
Krebs und sexuelle Gesundheit – ein erfülltes sexuelles Leben nach einer Krebserkrankung

Sexuelle Gesundheit

Als sexuelle Gesundheit bezeichnet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen „Zustand physischen, emotionalen und mentalen Wohlbefindens bezogen auf die Sexualität“.Sie ist von fundamentaler Bedeutung für die Gesundheit und das allgemeine Wohlbefinden von Individuen und Paaren.

Leider wird die sexuelle Gesundheit in der Onkologie nicht immer ausreichend berücksichtigt. Krebs und Sexualität sind nach wie vor ein doppeltes Tabu: Sowohl den Patienten und Patientinnen als auch dem medizinischen Fachpersonal fällt es häufig schwer, das Thema anzugehen – sei es aus Scham oder aufgrund von Zeit- oder Wissensmangel. Dennoch können eine Krebserkrankung und ihre Behandlung die sexuelle Gesundheit der Betroffenen beeinträchtigen. Ebenso kann das Intimleben für den Partner oder die Partnerin aufgrund der Veränderungen und der Verzweiflung, die sich mit der Krankheit einstellen, zum Problem werden, was wiederum zu Konflikten führen und zu einer zusätzlichen Belastung für die Paarbeziehung werden kann. Häufig trifft man auf die Annahme, dass der Verzicht auf ein sexuelles Leben eben der Preis sei, den man zahlen müsse, wenn man eine schwere Krankheit überleben wolle.

Darum ist es enorm wichtig, zu sensibilisieren, zu informieren, Bedürfnisse anzuerkennen und die Behandlung des Problems zu ermöglichen.

Jeder zweite Mann und vier von zehn Frauen leiden fünf Jahre nach der Diagnose an sexuellen Störungen

Es ist wichtig, das Tabu von Krebs und Sexualität zu durchbrechen, um das Wohlbefinden von krebskranken Menschen und ihren Partnern und Partnerinnen zu verbessern

Die Sexualität wird während der Behandlung häufig hintangestellt, denn je nach Abschnitt der Behandlung nehmen andere Themen die Aufmerksamkeit der Erkrankten voll und ganz in Anspruch: Unsicherheit und Angst während des Wartens auf die Diagnose, der Schock angesichts der Diagnose, die Belastung durch die Therapie und der Umgang mit den Nebenwirkungen. Darauf folgen die Auseinandersetzung mit der Angst vor einem Rückfall oder dem Tod, die Erkenntnis, dass nichts mehr ist „wie vor der Krankheit“ und schließlich die Akzeptanz einer veränderten Realität.

Psychisches Wohlbefinden ist eine wichtige Voraussetzung für sexuelle Gesundheit und umgekehrt

Stress, Angst und Depressionen sind massive Störfaktoren für eine erfüllte Sexualität 

 

Der Einfluss von Operationen auf die sexuelle Gesundheit

Céline, 42 Jahre, seit neun Jahren verheiratet, Brustkrebsdiagnose 2019:

„Anfangs habe ich mich nicht getraut, mich vor meinem Mann auszuziehen. Ich mochte meinen Körper nicht mehr, und ich dachte, ihm geht es genauso. Ich hatte Angst, dass er mich abstoßend findet. Und er hat mein Widerstreben gespürt und sich darum nicht getraut, mich im Bereich der Narbe zu berühren – aus Angst, mir wehzutun. Als ich erfahren habe, dass es bei der Fondation Cancer eine Sexualberaterin gibt, habe ich sofort einen Termin vereinbart. Sie hat mir geholfen, wieder mehr Selbstwertgefühl zu entwickeln und meinen Körper zu akzeptieren. Stück für Stück und nach einigen Paarberatungen habe ich begriffen, dass mein Mann mich so akzeptiert, wie ich bin, und dass es vor allem meine Angst vor Zurückweisung war, die verhindert hat, dass wir wieder eine erfüllte Sexualität leben.“

Frauen mit Brustkrebs empfinden es häufig als schwierig, wieder zu einer erfüllten Sexualität zu finden. Ihr Körper verändert sich infolge der Behandlung sehr schnell, und die Nebenwirkungen der Behandlung drohen ihre Weiblichkeit zu beeinträchtigen. Haarausfall, Gewichtsschwankungen, Narben oder auch die Entfernung einer Brust können sich negativ auf das (sexuelle) Selbstwertgefühl und damit auch auf die sexuelle Ausstrahlung auswirken. Wie bei Céline kann das zu einem Teufelskreis führen: Die Frau hält sich möglicherweise nicht mehr für attraktiv und nimmt an, dass ihr Partner oder ihre Partnerin sie nicht mehr liebt und sie aufgrund der körperlichen Veränderungen abstoßend findet. Sie beginnt, ihren Körper zu verstecken, weil sie sich schämt, was wiederum in Rückzug und Isolation münden kann. Und diese Vermeidung sexueller Kontakte wirkt sich negativ auf das Beziehungsleben aus.

Die bisweilen schwerwiegenden Folgen eines chirurgischen Eingriffs – eine Narbe, ein Stoma nach Blasen- oder Darmkrebs, eine radikale Prostatektomie bei Prostatakrebs oder eine Mastektomie bei Brustkrebs – wirken sich unter Umständen negativ auf das Körperbild sowie die Eigenwahrnehmung und Identität der Betroffenen aus. Ihr Selbstwertgefühl kann ebenso betroffen sein, wie ihr Intimleben.

Prostatakrebs ist nach wie vor die häufigste Krebserkrankung beim Mann und hat wohl mehr Auswirkungen auf die sexuelle Gesundheit als jeder andere Krebs

Robert, 59 Jahre, lebt seit 18 Jahren in einer Paarbeziehung, Prostatakrebs 2020:

„Nach der Diagnose erfolgte eine radikale Prostatektomie. Nach der Operation: Inkontinenz und Impotenz. Das war schwer zu ertragen, ich sah mich in meiner Männlichkeit gefährdet und hatte Angst, dass meine Lebensgefährtin mich verlassen würde, wenn wir keine sexuelle Beziehung mehr haben. Das Ganze hat mich so beschäftigt, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass eher ich derjenige war, der sich entfernt hat und jeder Intimität aus dem Weg gegangen ist. Bis zu dem Tag, an dem meine Lebensgefährtin mir gesagt hat, dass sie es nicht mehr aushalten würde, wie ‚Bruder und Schwester‘ zusammenzuleben, und darauf bestand, dass wir zu einer psychologischen Sexualberatung bei der Fondation Cancer gehen. Gott sei Dank hat sie darauf bestanden, denn das hat alles verändert. Der offene Dialog und die Bereitschaft, bei der Paarberatung einander zuzuhören, waren eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass wir zu unserem sexuellen Leben zurückgefunden haben. Mit fast 60 Jahren haben wir uns gegenseitig neu entdeckt. Es gibt ein sexuelles Leben nach Krebs, und ja, es ist anders als zuvor, aber genauso schön.“
 

Eine radikale Prostatektomie (vollständige Entfernung der Prostata) kann verschiedene Auswirkungen auf die sexuelle Gesundheit des Mannes haben:

  • Inkontinenz und Erektionsstörungen (vorübergehend oder dauerhaft)
  • Unfähigkeit zur Ejakulation und Zeugungsunfähigkeit beeinträchtigen häufig das Selbstwertgefühl 
  • Männlichkeitsmythos und Scham sind für viele Männer ein Problem und ein zusätzliches Hindernis für sexuelle Gesundheit

Unerwünschte Nebenwirkungen der Therapie

Jede Krebsbehandlung kann negative Auswirkungen auf die sexuelle Gesundheit haben.

Eine Chemotherapie sowie eine Strahlentherapie des Beckenbereichs können Auswirkungen auf die Fortpflanzungsorgane haben und die Qualität der Spermien oder Eizellen beeinträchtigen, sodass es zu einer vorübergehenden oder dauerhaften Zeugungsunfähigkeit oder Unfruchtbarkeit kommt. Außerdem beendet die Hormontherapie die Fruchtbarkeit vorübergehend oder endgültig. Falls Sie einen Kinderwunsch haben, sollten Sie vor Behandlungsbeginn mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin darüber sprechen, sodass Maßnahmen zum Erhalt Ihrer Fruchtbarkeit getroffen werden können.

Eine Hormontherapie führt zum Einsetzen der Wechseljahre bei der Frau und der Andropause (Absinken des Testosteronspiegels) beim Mann, sodass weniger Sexualhormone produziert werden. Dies kann auch eine Verringerung der Libido mit sich bringen. Eine Strahlentherapie des Beckenbereichs sowie Chemo- und Hormontherapie können vaginale Trockenheit verursachen, die wiederum Schmerzen bei der Penetration bedingen kann. Ihre Gynäkologin oder Ihr Gynäkologe kann Ihnen bei Bedarf Gleitmittel und hydratisierende Cremes verschreiben.
Eine Strahlentherapie des Beckenbereichs sowie Chemo- und Hormontherapie können zu Erektionsstörungen beim Mann führen. Hier kann eine Beratung durch einen Urologen oder einen klinischen Sexologen hilfreich sein.

Neuropathien, Taubheitsgefühle und Kribbeln nach einer Chemo- oder Strahlentherapie können dazu führen, dass Berührungen als unangenehm oder sogar schmerzhaft empfunden werden und so den Austausch von Zärtlichkeiten erschweren.

Sexualität umfasst weit mehr als den sexuellen Kontakt und beschränkt sich nicht auf die Penetration. Sie hat körperliche, emotionale, gesellschaftliche, spirituelle und kulturelle Aspekte. Es handelt sich um Gefühle und Wahrnehmungen, die unsere Identität, unser Selbstwertgefühl und unser Körperbild als Mann oder Frau prägen und von alltäglichen Gewohnheiten bis zu intimen Ritualen reichen – ob man in einer Paarbeziehung lebt oder Single ist. Sexualität ist sehr individuell, es gibt so viele Arten, seine Sexualität zu leben, wie es Individuen gibt. Sie unterscheidet sich zwischen Mann und Frau, nach Alter, Körper und eigenem Körperbild.

4 % der Frauen und 18 % der Männer berichten, dass die sexuelle Gesundheit im Laufe ihrer Behandlung von dem medizinischen Team thematisiert wurde

Rückkehr zu einer erfüllten Sexualität

Das Intimleben beschränkt sich nicht auf den reinen Geschlechtsakt. Zärtlichkeiten, Küsse, Massagen, manuelle Befriedigung oder erotische Träume tragen zu einer ausgeglichenen Sexualität bei. Sexualität stärkt die Liebesbeziehung, das Vertrauen in sich und den anderen und kann Vergnügen bereiten und Halt geben. Und man wird nicht mehr auf die Rolle der erkrankten Person reduziert. 

Sexualität entwickelt sich im Laufe des Lebens. Sprechen Sie über Ihre Erfahrungen, Ihre Gefühle und Ihre Probleme – zum Beispiel mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin oder einem Sexualtherapeuten oder einer Sexualtherapeutin. Das Wichtigste aber ist, dass Sie darüber sprechen!

Setzen Sie sich nicht unter Druck! Nehmen Sie sich die Zeit, die nötig ist, um die durch die Krankheit bedingten Veränderungen Ihres Körpers und Ihrer Sexualität zu akzeptieren und in Ihr Leben aufzunehmen.

Ziel des intimen und sexuellen Lebens ist nicht eine Erektion oder ein Orgasmus um jeden Preis, sondern es geht darum, schöne Momente zu erleben und das Vergnügen zu teilen. Schaffen Sie auf die ein oder andere Weise Intimität mit Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner, bewahren Sie engen körperlichen Kontakt, kultivieren Sie gute Augenblicke – gemeinsam und allein.

Bleiben Sie flexibel und offen, um zu einer neuen Form von Sexualität zu finden. Erproben Sie neue Möglichkeiten von Intimität und sexuelle Praktiken ohne Penetration. Lassen Sie den Mythos der unbedingten Penetration hinter sich und erobern Sie sich neue Möglichkeiten sexuellen Erlebens.

Vertrauen und Kommunikation sind die Schlüssel zu einer erfüllten Sexualität

Was ist ein klinischer Sexologe bzw. eine klinische Sexologin?

Ein Sexologe ist ein Gesundheitsexperte (Arzt, Hebamme, Psychologin usw.), der oder die sich auf die Behandlung medizinisch oder psychologisch bedingter sexueller Störungen spezialisiert hat. Ein Onko-Sexologe kann dank seiner Ausbildung Unterstützung bei sexuellen Problemen nach einer Krebserkrankung leisten.

Falls Sie betroffen sind oder Fragen haben, können Sie sich für eine onko-sexologische Beratung an den psychosozialen Dienst der Fondation Cancer wenden.

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