Für die meisten Paare beginnt es zunächst mit einem Schock. Die Diagnose einer Krebserkrankung weckt die schlimmsten Fantasien. Genaue Vorstellungen haben die meisten Paare jedoch nicht darüber, was auf sie zukommt. Denn man merkt erst mit der Zeit, was da ins eingespielte Paarleben hereingebrochen ist, mit dem man nicht gerechnet hat. Der erste Kontakt mit einer Chemotherapie ist sehr markierend, denn da zeigt sich dann ganz konkret, wie sehr Alltagsroutine und Pläne durcheinandergeworfen werden können. Und doch: viele Paare schaffen es zunächst, alle Kräfte zu mobilisieren, mit dem festen Ziel vor Augen, dass nach der Behandlung alles wieder so wird, wie zuvor. Wieder gesund werden, so lautet das Ziel. Oft halten die Paare noch enger zusammen. Meist selbstverständlich nimmt der gesunde Partner zunächst die Rolle des starken, stützenden, optimistischen Parts ein – nach dem Motto: „Wir schaffen das schon!“ und übt sich in Rücksichtnahme und stellt die eigenen Bedürfnisse zurück.
Für viele Paare geht es jedoch nicht um die Bewältigung einer Kurzstrecke, sondern eher um einen Marathon. Denn für viele Krebserkrankungen hat sich dank moderner Behandlungsoptionen die Prognose verbessert, was jedoch konkret meist bedeutet, dass sich immer mehr Krebspatienten auf ein Leben mit einer chronischen Krebserkrankung einstellen müssen. Mit der Einsicht „nicht heilbar“ muss das Paar dann erstmal lernen zu leben. Von ihnen ist nun erneut eine enorme psychische Anpassungsleistung gefordert. So auch bei Herrn F. nach einem Rezidiv seiner Prostatakrebserkrankung: „Meine Frau und ich reden eigentlich über nichts Anderes mehr, nur über Krankheit. Nichts ist mehr so wie vorher: weder beruflich, noch in der Familie oder bei der Sexualität.“
Veränderungen auf der Paarebene
Paare lassen sich entlang von Polaritäten beschreiben. Anhand von „Nähe und Distanz“ (Polarität Bindung und Autonomie), „Durchsetzung und Anpassung“ (Polarität der Macht) sowie „Geben und Nehmen“ (Polarität des emotionalen Austausches) gestaltet jedes Paar auf seine typische Art und Weise seine gemeinsame Lebenswirklichkeit.
Am zufriedensten sind dabei oft die Paare, bei denen die drei Polaritäten ausgeglichen sind. Das heißt: Ein hoher gegenseitiger Umsatz von Geben und Nehmen, dabei Freiraum für sich selbst und gleichzeitig fester Bindung und eine dynamische Balance von Durchsetzung und Anpassung. Wie auch immer das bisherige Muster, bei einer Chronifizierung einer Krebserkrankung gibt es dann meist kein „weiter so“, sondern die Paarbeziehung, so wie sie bisher funktioniert hat, gerät durch den starken Stress aus dem Gleichgewicht. Daraus können sich Chancen und Risiken ergeben.
Nähe und Distanz
Hier geht es um die Balance zwischen „ich“ und „wir“. Wie viel Raum hat jeder für sich selbst zur persönlichen Entfaltung in der Beziehung? Wie stark ist der Zusammenhalt? Die Bindung?
Das kinderlose Ehepaar M. hat zwei beeindruckende berufliche Karrieren aufzuweisen, als eine Darmkrebserkrankung Herrn M. mit 55 Jahren unvorbereitet trifft. Beide legen zu dem Zeitpunkt sehr viel Wert auf ihre Autonomie. Manchmal spotten ihre Freunde, dass sie wie zwei Singles zusammenleben würden. Wirklich zufrieden sind beide nicht, bedauern manchmal, was aus ihrer Liebe geworden ist, aber es gibt auch keine größeren Konflikte und keine Außenbeziehungen. Zunächst scheint alles nur eine kurze Krankheitsepisode zu sein. Nach einem Rezidiv kann Herr M. jedoch in seinem alten Beruf als Geschäftsführer einer großen Firma nicht weiterarbeiten.
Im günstigsten Fall kommen sich zwei Menschen angesichts einer chronischen Erkrankung wieder näher, werden vertrauter und schmieden gemeinsam ein Bündnis gegen die Krankheit. Frau M.: „Wir waren vorher immer so beschäftigt mit unseren beruflichen Projekten, oft zu müde, um noch etwas Gemeinsames zu erleben. Erst mit der fortschreitenden Krankheit haben wir uns in vielen Gesprächen wiederentdeckt und uns unserer Liebe neu versichert.“
Durchsetzung und Anpassung
Wer bestimmt? Wer ordnet sich unter? Hier geht es darum, wer in welchen Bereichen Einfluss auf den anderen nimmt. Ohne es zu bewerten, geht es hier um Fragen von Macht. Auch hier kann die Chronifizierung einer Krebserkrankung das bisherige Muster auf den Kopf stellen oder so verstärken, dass sich zunächst einmal Stress einstellt.
Beim Ehepaar P. mit zwei erwachsenen Kinder hatte sich Herr P. immer sehr stark in seinem Beruf als Geschäftsführer einer großen Firma engagiert, aber auch das Privatleben dominiert und kontrolliert. Frau P. hatte das so mitgemacht. Als sich Herr P. nach einem zweiten Rezidiv eines Prostatakarzinoms aus dem aktiven Berufsleben zurückzieht, beginnt er immer stärker das Privatleben der Familie zu bestimmen. Frau P.: „Seit er nur noch zu Hause ist, schneidet es mir die Luft ab.“
Herr P. begibt sich in psychoonkologische Beratung, aus Angst vor dem Verlust an Männlichkeit durch die verordnete Hormontherapie. Die Konsequenzen für den sexuellen Bereich fürchtet er am meisten. Ein Nebeneffekt der Beratung: Ihm wird bewusst, dass er Angst vor Kontrollverlust und Chaos durch die Krankheit hat, und dass er versucht, dies auszugleichen, indem er das Privatleben bis ins Detail zu bestimmen versucht. Erst als ihm das bewusst wird, kann er loslassen und seiner Frau mehr Einfluss zugestehen, was sich positiv auf die Beziehung auswirkt.
Geben und Nehmen
Was „investiert“ jemand in die Beziehung und was nimmt er heraus? Frau K. gab schon früh ihren Beruf auf, um ganz für die Familie da zu sein und um sich um Mann und Kinder kümmern zu können. Ihren Mann bezeichnete sie manchmal im Scherz als ihren dritten Sohn. Als sie an Brustkrebs erkrankte und erst recht als sich nach einigem Monaten Knochenmetastasen zeigten, musste sie erkennen: „Ich brauche jetzt auch etwas!“. So konnte sie nicht weitermachen.
Herr K., der sich bis zu dem Zeitpunkt des Rezidivs seiner Frau, auf seine Karriere konzentriert hatte, sah die veränderte Situation seiner Frau als seine Chance, sich nun auch fürsorglich zu zeigen. Bisher war es immer seine Frau, die schneller und besser für die Familie zu sorgen schien, was alle emotionalen und praktischen Bedürfnisse anging. So begriff er es nun als Herausforderung, etwas zurückzugeben und nicht nur für den finanziellen Rückhalt zu sorgen. Das hat der Beziehung gutgetan, so beurteilen es Beide. Hätte er sich geweigert, in die „gebende Rolle“ zu gehen, wäre die Beziehung auf eine erhebliche Belastungsprobe gestellt worden.
Die langandauernde chronische Erkrankung eines Partners bringt die homöostatische Stabilität in der Paarbeziehung massiv aus dem Gleichgewicht und führt somit zu starkem Stress. Trotz schwerer Beeinträchtigungen durch eine chronische Krebserkrankung berichten manche Paare, dass die Qualität ihrer einer Beziehung erhalten und manchmal sogar verbessert wurde. Was bedarf es dafür?
Im Gespräch bleiben
Gerade dann, wenn das Paar eigentlich zusammenhalten sollte, da absehbar ist, dass die Krankheit eben nicht nur eine Episode ist, sondern dauerhaft zum Bestandteil des gemeinsamen Lebens wird, kann die Krankheit entzweien. Sie erscheint dann wie ein „Dritter“ der sich eingenistet hat. Erkennbar ist die Gefahr immer dann, wenn der Erkrankte verschweigt, wie es ihm geht und wie er es erlebt, nun chronisch krank zu sein. Die Gefahr zeigt sich aber auch, wenn der gesunde Partner damit zurückhält, wie es ihm mit der Veränderung geht, oft aus Angst, dem Anderen nicht noch zusätzlich zur Last zu werden. Die doppelte Wirkung: Wenn man sich nicht mehr wirklich mitteilt, dann kommt es zur Entfremdung. Oft braucht es Mut, sich gegenseitig alle Ängste zuzumuten. Aber nur so ist es letztendlich möglich, dass das Paar ein Bündnis gegen die chronische Krankheit schließt und die Krankheit zum gemeinsamen Problem erklärt. Mut und manchmal auch Hilfe von außen (zum Beispiel Unterstützung von Psychoonkologen) ist auch nötig, da sich mit einer chronischen Erkrankung das Thema „Sterben und Tod“ in die Paarrealität einschleicht. Ein Angehöriger beschreibt es so: „Die Brustkrebserkrankung bei meiner Frau ist chronisch geworden, aber wann wird aus dem ‚chronisch‘ wieder ein ‚akut‘?“
Anerkennung und Dank zeigen
Alte Rollen verschieben sich, manchmal muss sogar die Rolle des Ernährers der Familie nun der Partner übernehmen. Aufgaben können nicht mehr so wie bisher erfüllt werden. Bedürfnisse müssen zurückgestellt werden, manchmal geht es sogar ums Verzichten. Da ist die Überforderung nicht weit, wenn die Chronifizierung einer Krankheit so viele Veränderungen verlangt. Können da Gesten und Worte von Anerkennung und Dank überhaupt helfen? Ja, sagen die Experten. Herr P. dankte seiner Frau, dass sie viele Wochen an seinem Bett saß nach der schweren Operation und ihn geduldig durch die Rehabilitation begleitete, auch in dem Wissen, dass es nie wieder wie zuvor werden könnte. Für Frau P. war dies ein wichtiges Zeichen, das sie sehr berührte und dabei half, weiterzumachen.
Paarzeit bewusst gestalten
Um zu vermeiden, dass sich in der Partnerschaft alles nur noch um Krankheit dreht, um Medikamente, Einschränkungen, Abschiede, hilft eine „Lichtblick- Liste.“ Wöchentlich sollte vom Paar festgelegt werden, welche schönen Dinge gemeinsam erlebt werden können. Auch wenn bei der Schwere der Erkrankung vielleicht nicht mehr alles möglich ist, etwas Gutes gibt es immer, wenn auch vielleicht in kleinerer Form als in gesunden Zeiten.
Den Fokus auf Dinge richten, die guttun, und dies auch bewusst zu planen, hilft nicht nur dem Paar, sondern auch jedem Einzelnen. Chronisch erkrankten Patienten können so Einfluss auf ihre Gefühle nehmen. Angehörige können so der häufigen Tendenz zur Selbstaufgabe entgegenwirken, wenn sie dem Rat von Experten folgen: „Machen Sie häufig Dinge und planen sie diese bewusst mit ein, die Ihnen guttun. Damit stärken Sie sich selbst und beugen einem Burn-out vor.“
Die Veränderungen durch chronische Krebserkrankung eines Partners sind so bedeutsam, da sich im Paarsystem eigentlich alles ändert und damit oft eine tiefgreifende Krise ausgelöst wird. Wie bei jeder Krise ergeben sich dabei Chancen und Risiken für eine Beziehung. Im günstigsten Fall gelingt es einem Paar, auch diese Lebenszeit der chronischen Erkrankung bewusst zu gestalten und sich dabei nah und zugewandt zu bleiben.