Fünf Buchstaben, die eine ganze Welt auf den Kopf stellen können: Krebs. Wer daran erkrankt, hat selbst bei guten medizinischen Aussichten häufig einen schweren Weg vor sich. In der EU betrifft dies jährlich ca. drei Millionen Menschen, in Luxemburg 3.000. Glücklich schätzen darf sich, wer diesen Weg nicht alleine gehen muss. In der Regel sind es Familienangehörige oder Lebenspartner, die sich um kranke Patienten kümmern. „Für viele ist das gegenseitige Helfen und Unterstützen in der Familie und in der Partnerschaft eine Selbstverständlichkeit. Währenddessen läuft der Alltag – der Beruf, die Kinder – ja weiter. Insofern trägt diese Situation eine Doppelbelastung in sich“, warnt jedoch Barbara Strehler, Psychotherapeutin bei der Fondation Cancer.
Inhaltsverzeichnis des Artikels
- Sich anpassen, um zu „funktionieren“
- Stillschweigen trotz Mehrfachbelastungen
- Entspannung, die Kraft schenkt
- Selbsthilfe durch Gleichgesinnte
Wie emotional und körperlich fordernd die Stellung von Angehörigen mit der Zeit werden kann, wie viel Kompetenz ihnen abverlangt wird, wissen nur die wenigsten. Thematisiert werden in den Familien in erster Linie die Auswirkungen von Tumor und Therapie der Patienten. Man will der Diagnose Krebs gemeinsam angemessen begegnen, sie in den bisherigen Alltagsrhythmus integrieren mit allem, was dazugehört. Schmerzen, Unwohlsein, Gewichtsab- oder -zunahme, Haarausfall und vieles mehr. Hinzu kommen bei fast allen Patienten Stimmungsschwankungen. Immerhin müssen sie täglich aufs Neue Ängste, Unsicherheit und Frustrationsmomente aushalten. Die Belastungen auf der Angehörigenseite werden dagegen lange übersehen. Bis aus dem Ausnahmezustand zu Hause ein Dauerzustand zu werden droht.
Sich anpassen, um zu „funktionieren“
Wenn über Angehörige gesprochen wird, dann meist nur, um ihre Rolle als „familiäre Pflegekraft“ im System der nationalen Pflegeversicherung abzustecken. Dabei rücken diejenigen Angehörigen aus dem gesellschaftlichen Fokus, die zahlenmäßig nicht als Betreuungsperson erfasst werden, weil sie sich “nur“ um andere kümmern. Dass diese Form der Sorgearbeit, die psychosoziale Aufgaben beinhaltet, langandauernd und außerordentlich intensiv sein kann, ist anfangs nicht einmal den Angehörigen klar. Eine Vielzahl von Fahrdiensten zu Arztterminen und Krankenhausbesuche absolvieren, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eigenständig neu ordnen, hinzukommenden Gesprächsbedarf decken – kurz, es gilt den besten Umgang mit der Erkrankung eines geliebten Menschen zu lernen, um weiterhin „irgendwie zu funktionieren“. Erst langsam schält sich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung das Bewusstsein heraus, dass auch der Gesundheits- und Gemütszustand der indirekt betroffenen Familienmitglieder eines Krebskranken von Belang ist.
Nicht zuletzt kann der Erfolg einer anstrengenden Krebstherapie oder Behandlungsmethode eines Patienten nicht losgelöst betrachtet werden vom positiven Verhältnis zu den nächsten Angehörigen. Und das bedingt ebenso sehr deren Wohlbefinden in derart existenziellen Zeiten. Doch wie lässt sich ein solcher Zustand erreichen? Ist am Ende alles nur eine Frage der Einstellung, der inneren Haltung?
Stillschweigen trotz Mehrfachbelastungen
Was manchem leicht machbar erscheinen mag, ist zum Modewort schlechthin geworden: Achtsamkeit. Dem häufig zitierten, emeritierten amerikanischen Medizinprofessor Jon Kabat-Zinn zufolge verbirgt sich dahinter die Fähigkeit, „die Realität des gegenwärtigen Augenblicks zu akzeptieren.“ Nicht Vergangenheit oder Zukunft sollen im Vordergrund stehen, denn „unser Leben [besteht] aus einer Folge von Augenblicken. Wenn wir in vielen dieser Augenblicke nicht völlig gegenwärtig sind, so übersehen wir nicht nur das, was in unserem Leben am wertvollsten ist, sondern wir erkennen auch nicht den Reichtum und die Tiefe unserer Möglichkeiten zu wachsen und uns zu verändern.“
Ein Konzept also, das durch mehr Aufmerksamkeit mehr Lebensqualität verspricht und im Grunde komplexe, stressige Umstände explizit mitbedenken soll. Aber was ist mit Kümmer- und Pflegesituationen, in denen sich Stress und Komplexität sogar noch potenzieren? Es lohnt sich, hier den zweiten nicht vor dem ersten Schritt zu machen. Belastungen für Angehörige lassen sich normalerweise nicht einfach durch einen Perspektivwechsel in Luft auflösen. Schon gar nicht, wenn über die konkrete Beeinträchtigung selbst viel zu oft Stillschweigen herrscht. Hier ein paar Beispiele:
Überforderung
Partner von Krebspatienten erleben jedes Auf und Ab hautnah mit. Über Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre hinweg. Während sie als mitfühlende Angehörige versuchen, durch ihre dauerhafte Unterstützung die familiären wie auch finanziellen Konsequenzen eines solchen Schicksals abzumildern, stellen sie mit der Zeit oft ihre eigenen Bedürfnisse zurück oder übergehen sie komplett. So fehlt es ihnen nicht nur an Ausgleich, ihnen drohen durch zusätzlichen Stress und stete Überforderung regelrechte Erschöpfungszustände.
Verändertes Rollenverhältnis
Kinder und Jugendliche sehen sich irgendwann in der Pflicht, mehr Verantwortung zu tragen und damit einhergehende Aufgaben zu übernehmen, je länger die Erkrankung der Eltern anhält. Und auch erwachsene Kinder von Krebspatienten fühlen sich der Situation nicht immer gewachsen und geraten vielfach an ihre Grenzen. Einige werden mangels Partner zu Ansprech- und Bezugspersonen gemacht. Eher schleichend als schlagartig vertauschen sich so die Rollen zwischen beiden Seiten.
Schuldgefühle
Die Chance nutzen, vom Krankenbett wegzukommen? Viele Angehörige findet sich in diesem scheinbaren Zwiespalt wieder: eigene Interessen verfolgen oder als Stütze fungieren. Dass sich beide Positionen keineswegs widersprechen müssen, sondern einander teilweise sogar voraussetzen, wird nicht immer erkannt. Mitunter stellen sich ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle bei Angehörigen besonders bei unterhaltsamen Freizeitbeschäftigungen ein, die Ablenkung von der vorherrschenden Krankheitssituation bieten.
Verlustangst
Finden sich keinerlei Mittel, um dem Krebskranken zu helfen, während sich auch noch sein Zustand verschlechtert, werden auf der Angehörigenseite Verlustangst und Trauer zum ständigen Begleiter. Der Leidensdruck verstärkt sich. Viele reagieren darauf mit Depressionen, Alkohol- oder anderweitigem Substanzmissbrauch. Hierbei handelt es sich um Bewältigungsstrategien, die keine sind. Das Gefühl, einen absehbaren Tod nicht abwenden zu können, wird so allenfalls eine Weile verdrängt.
Konfliktmodus
Nur abwarten und hoffen? Sich untätig fühlen und gegen anhaltende Hilflosigkeit ankämpfen bleibt nicht ohne Folge. Viele Angehörige bewegen einerseits innere Konflikte, wenn sie mit den neuen Rollenzuschreibungen überfordert sind oder diese zu einer befremdlichen Selbstwahrnehmung führen. Auch sind innerfamiliäre Konflikte nicht immer vermeidbar: Streitigkeiten kommen in besten Familien vor. Zum Gefühlsspektrum aller Betroffener gehören neben vielfältigen, unterschiedlichen Ängsten darum auch Wut und Aggressionen.
Kommunikation
In Krisenzeiten eine erhöhte Empfindlichkeit an den Tag zu legen ist nicht untypisch. Man sollte aber nicht jedes Wort des kranken Gegenübers auf die Goldwaage legen. Angehörige neigen außerdem dazu, das, was sie umtreibt, nicht unbedingt mit dem Erkrankten zu teilen. Weder Überlegungen noch Emotionen werden zugegeben, aus Furcht, dem anderen zu viel zuzumuten. Gespräche – mit dem Patienten wie auch mit anderen Dritten – scheitern wiederholt an einer inneren Blockadehaltung, die nichts nach außen dringen lassen soll, obwohl gerade jetzt Austausch und Offenheit helfen könnten.
Außenwelt
Kaum ein Außenstehender will sich aufdrängen. Wer jedoch nicht weiß, wo und wie Hilfe erwünscht ist, lässt den Kontakt schleifen. Einige Angehörige interpretieren dieses Verhalten von Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen als eine Art Desinteresse oder Ablehnung. Privates wird aus Unsicherheit immer seltener thematisiert und ein eigener sozialer Rückzug angestrebt – auf beiden Seiten. Der Eindruck, allein (gelassen) zu sein, verstärkt sich so sehr, bis nur noch aktives Gegensteuern von außen diese Fehleinschätzung korrigieren kann.
Entspannung, die Kraft schenkt
Ein zentrales Dilemma von Angehörigen krebskranker Patienten fasst Psychologin Barbara Strehler darum so zusammen: „Angehörige neigen dazu, sich in ihren Kräften zu überschätzen.“ Ehe Angehörige ihre Not wahrhaben wollen und etwa Hilfe bei der Fondation Cancer suchen, vergehe viel Zeit. „Bevor es zu einem Burnout kommt, kämpfen nicht wenige mit zahlreichen Strapazen. Aber soweit sollte man es nicht kommen lassen“, so die Expertin. Sie rät, sich Pausen zu setzen, Hobbys nicht zu vernachlässigen und „am besten auch einen Tag Auszeit ermöglichen.“ Entspannung sei kein Luxus, sondern notwendig, um sich zu regenerieren und neue Kräfte zu mobilisieren.
Wie aber erkennen, wann die Anstrengungen überhandnehmen? Übermäßige Ermüdungszustände lassen sich schnell als körperliche Zeichen auf die Herausforderungen in einem Leben mit Krebs identifizieren. Genauso können sich aber auch beispielsweise Rückenprobleme oder scheinbar nicht damit in Zusammenhang stehende andere Probleme entwickeln. Neben Körperreaktionen wirken sich psychische Veränderungen wie die Zunahme von Angstgefühlen oder Verärgerung besonders negativ aus. „Diese Signale der Seele sollte man ernst nehmen anstatt sich dagegen zu wehren, um damit besser umzugehen. Oft deuten sie eine Überforderung an, die nicht ignoriert werden sollte“, betont Strehler.
Bewusstsein schaffen
Studien zufolge werden in Europa seit Jahren rund 80 Prozent aller Pflegebedürftigen daheim von Angehörigen gepflegt und/oder von Freunden
unterstützt. Viele erhalten zudem eine stundenweise Betreuung durch ambulante Teams. Insgesamt sollen europaweit 44 Millionen solcher informellen Pflegekräfte täglich aktiv sein. Wie viele Menschen sich dagegen um (krebs-)kranke Personen lediglich kümmern, ist praktisch nicht zu erfassen. Es gibt keine verlässlichen Zahlen und neben engagierten Akteuren wie der Fondation Cancer noch keine offizielle Lobby, die in öffentlichen Debatten für ausreichend Gehör sorgen konnte. Doch der Bedarf an gesellschaftlicher Repräsentation und Unterstützung ebendieser „unsichtbaren“ Angehörigen ist da – auch in Luxemburg. Immerhin lässt sich ein Drittel aller jährlichen Todesfälle auf Krebs zurückführen.
Mit kritischem Blick ließe sich schlussfolgern, dass das, was Angehörige Krebskranker leisten, vor allem einen Mangel an Anerkennung erfährt. Was sie mit erleiden, wird – gewollt oder ungewollt – im patientenorientierten System tabuisiert. Daran ändert bislang auch der Kommentar von Gerd Nettekoven, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krebshilfe zum Weltkrebstag 2020, praktisch nichts: „Patient ist die ganze Familie.“ Eine simple, aber unmissverständliche Botschaft: Kranke und Angehörige von Krebskranken sind nicht gleichermaßen, aber gleichsam Betroffene.
L’entraide entre personnes partageant le même sort
Die gute Nachricht: In Luxemburg gibt es vermehrt nachhaltige Unterstützungsangebote, selbst wenn sie noch nicht flächendeckend zugänglich sind. Barbara Strehler sieht in der psychoonkologischen Begleitung viel Potenzial. „Rund 35 Prozent der betroffenen Familien wäre damit sehr geholfen, gerade wenn Kinder und Jugendliche als Angehörige im Boot sitzen. Familiengespräche mit Externen sind enorm entlastend.“ Nicht weniger vielversprechend sind Einzelgespräche, wie sie Strehler und ihre Kolleginnen und Kollegen in der Fondation führen. „Viele Angehörige, die zu uns kommen, schätzen es sehr, mal ganz unzensiert zu erzählen, was ihnen selbst so durch den Kopf geht. Worüber sie sich Sorgen machen, wenn es um den Patienten oder um sie selber geht. Aussprechen, was einen belastet, ohne irgendjemanden schonen zu müssen, macht einen großen Unterschied.“
Neben klassischen Therapiesitzungen will die Stiftung künftig vermehrt auf Selbsthilfegruppen setzen. Den Anfang 2021 machte im Januar eine Gruppe für Prostatakrebs-Patienten. Eine Angehörigen- Gruppe soll bald folgen. Schließlich bietet dieser Rahmen neben Rat und Information insbesondere die Hoffnung auf gegenseitiges Verständnis unter Gleichgesinnten. Eine mehr als geeignete Basis also, um wieder Mut und Kraft zu schöpfen, und mehr als eine bloße Ergänzung zur Auseinandersetzung mit Gesundheitsämtern und Krankenhäusern.
Den persönlichen Kontakt zu anderen Menschen gezielt nutzen, das ist in Corona-Zeiten für die meisten noch schwerer als ohnehin schon. Doch auch hier lohnt sich Durchhaltevermögen. Wenn Beteiligte mehrere Anläufe brauchen, um sich in diesen unvorhersehbaren Monaten zurechtzufinden und neu auszurichten, lässt sich das wohl kaum vermeiden. Daran hat die Pandemie nichts geändert, ganz im Gegenteil. Allem Abstand zum Trotz ist aber jetzt mehr denn je ein Miteinander gefragt. Bereits in kleinen Gesten von Außenstehenden sieht Barbara Strehler geeignete Mittel und Wege, um einander verbunden zu bleiben, Abhilfe gegen Vereinsamung zu schaffen und Angehörigen Trost zu spenden.
„Wie wichtig ein überraschender Anruf, ein unerwarteter kleinerer Blumengruß oder sogar ein handgeschriebener Brief sein können, ist den Leuten leider gar nicht bewusst. Auch hier gilt: fragen! ‚Kann ich was für dich tun? Wie geht’s dir?‘ Mehr gesellschaftlicher Zusammenhalt wäre hier angebracht.“ Angehörigen legt sie ans Herz, die eigenen Erwartungen herunterzuschrauben. „Es gilt: Schätzen, was man hat. Wenn da jemand ist, mit dem man nett durch den Wald joggen kann, sollte man das nutzen und nicht unbedingt verlangen, immer und überall mit allen über die Erkrankung zu sprechen. Das bringt auch wieder Abstand zur eigenen Situation und das ist gut.“